AnAnLondree@the wearness

Fashion und Nachhaltigkeit:
"Gewinnmaximierung ist ein Auslaufmodell“

Am 4. Juni werde ich die „Female in Retail“ Masterclass zu den Themen unternehmerische Wertschöpfung und Nachhaltigkeit auf der K5 Future Retail Konferenz in Berlin hosten. Zu Gast habe ich drei Frauen aus der Fashion Branche, die für nachhaltiges unternehmerisches Handeln stehen. Im Vorfeld habe ich mich bereits mit Julia Zirpel, Gründerin des Online-Marktplatzes für ethische Luxusmode thewearness, getroffen. Sie erklärt im Interview, warum Mode uns heute nichts mehr bedeutet  und zu Wegwerfware geworden ist. Und wie sie die bisherige Wahrnehmung von ethisch einwandfreiem Luxus mit einem digitalen Marktplatz ändern möchte.

Julia Zirpel hat 2018 zusammen mit Guya Merkle, Jennifer Dixon und Karolin Delou den Marktplatz für ethische Luxusmode "the wearness" gegründet.

Liebe Julia, Luxusmode und digitaler Marktplatz, schließt sich das eigentlich nicht aus?

Egal, ob ich ein Produkt oder ein Thema habe, das ich verbreiten möchte, man benötigt dazu eine digitale Plattform. Man erreicht die Leute heutzutage vornehmlich digital – unabhängig davon, wo sie dann am Ende einkaufen. Außerdem wird Luxusmode sehr viel online geshoppt. Wichtig ist hierbei eine hochwertige Optik. The wearness ist ein kuratierter Marketplace und sieht mehr wie ein hochwertiger Online-Shop aus.

Was hat dich bewegt, ein Marktplatz für ethische Luxusmode zu gründen?

Die Bekleidungsindustrie steht im Umweltsünder-Ranking auf Platz zwei, gleich hinter der Öl-Industrie. Kollektionen wechseln so häufig wie nie zuvor und der globale Textilverbrauch hat sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt. Mit unserem Marktplatz wollen wir das Bewusstsein für Mode verändern und auch den Look und das Image, dass nachhaltige Mode bisher hat.

 

"Ich bin davon überzeugt, dass Geschäftsmodelle,
die sich ausschließlich an Gewinnmaximierung orientieren, ein Auslaufmodell sind."

 

Erkläre doch bitte kurz das Konzept von thewearness.

Wir kuratieren Designer, Hersteller und Produkte, die sich dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben haben. Wir erzählen deren Geschichten und inszenieren sie auf unserer Plattform. Und dann kann man die Produkte auch bei uns bestellen. Unser Konzept ist nicht nach Gewinnmaximierung, sondern nach ethischen Kriterien wie Qualität, Ökologie und faire Arbeitsprozesse ausgerichtet. Ich bin davon überzeugt, dass Geschäftsmodelle, sie sich ausschließlich an Gewinnmaximierung orientieren, ein Auslaufmodell sind. Man muss sich dafür nur die Unternehmen in Deutschland ansehen, die am Straucheln sind.

Was macht aus deiner Sicht Nachhaltigkeit in der Mode aus?

Mode muss aus meiner Sicht verantwortungsbewusst produziert sein. Dafür muss sich aber auch die Einstellung der Verbraucher ändern. Wenn ich mehr Wertschätzung vor der Mode und den Kleidungsstücken habe, dann kaufe ich ganz anders ein und werfe beispielsweise die Sachen nach dreimal Tragen nicht weg.

Wie kannst du dich in der Nische gegen Marktplatzgiganten wie Zalando oder About You behaupten?

Wir konkurrieren nicht gegen einen Marktlatz wie Zalando. Zalando verkörpert ja genau den schnelllebigen Konsum bei Mode, dem wir uns abwenden wollen. Wir sprechen Kunden an, die verantwortungsbewusst mit Mode umgehen. Die ihre Kleidungsstücke bewusst wählen, eine Beziehung dazu haben und sie wertschätzen. Mode, die ihnen selbst ein gutes Gefühl gibt.

Nach welchen Kriterien wählt ihr die Marken und Hersteller aus, die auf eure Plattform kommen?

Also zunächst achten wir sehr stark auf den Stil und das Design, das muss einfach zu uns passen. Dann schauen wir, wie ökologisch und nachhaltig die Hersteller in den Produktions- und Arbeitsprozessen aufgestellt sind. Aus meiner langjährigen Tätigkeit als Moderedakteure kenne ich die Branche ganz gut und weiß, welche Labels ich auf unserem Marktplatz haben möchte. Aber es kommen ja auch immer wieder neuen Brands auf den Markt und da prüfen wir anhand eines ausführlichen Fragebogens sehr genau, wie nachhaltig die Labels agieren. Der Hersteller verpflichtet sich vertraglich zu korrekten Angaben.

Kuratieren und Inszenieren von nachhaltiger Mode: Label hellmuth @ thewearness

Wieviele Hersteller sind bei euch auf dem Marktplatz zu finden?

Bei Start des Marktplatzes vor einem Jahr hatten wir 15 Hersteller an Bord, heute sind es schon über 70.

Welches Geschäftsmodell steckt dahinter?

Wir wollen die Einstiegsbarrieren an unserem Marktplatzmodell sehr geringhalten, von daher verlangen wir kein Set-Up Fee. Wir bekommen eine anteilige Provision an den Verkäufen von den Herstellern.

Welche Sortimente kuratiert ihr?

Wir konzentrieren Mode, Accessoires und Beauty für Männer und Frauen. Im Moment wollen wir verstärkt den Bereich Beauty ausbauen.

 

"Ich wünsche mir, dass Start-Up-Projekte, die soziale und
gesellschaftliche Aspekte vorantreiben, mehr Chancen bekommen."

 

Wie finanziert ihr euch?

Durch eine Einlage der Gründerinnen und Fördergelder. Und wir sind auf der Suche nach Investoren, die unser Thema unterstützen. Was ich wirklich bedauere ist, dass es die echten Fördermittel von Bund und Ländern fast ausschließlich in den Topf der technologischen Innovationen fließen. Das ist zwar wichtig. Aber ich würde mir wünschen, dass Start-Up-Projekte, die soziale und gesellschaftliche Aspekte vorantreiben, auch mehr Chancen bekommen.

Du warst Moderedakteurin, jetzt musst du als Gründerin eines digitalen Marktplatzes auch mit Technologiethemen auseinandersetzen. Wie kommst du damit zurecht?

Man lernt nie aus und wenn man sich damit beschäftigt, ist es auch gar nicht so schwierig. Natürlich bekommen wir Support von einem IT-Berater, aber die Standarddinge wie Produktseiten erstellen mit digitaler Contenterstellung generell hatte ich ja schon in meiner Zeit als Moderedakteurin zu tun.

Auf was muss man achten, wenn man künftig mehr Wert auf Nachhaltigkeit beim Klamottenkauf legen will? Welche Tipps hast du?

Es fängt wirklich beim eigenen Einkaufsverhalten an. Beim Kauf von Mode muss man sich immer die Frage stellen: Brauche ich das wirklich? Passt das wirklich zu mir? Hier gilt immer Qualität vor Quantität. Und natürlich auf das Material achten, Mischmaterialien sind beispielsweise schwer zu recyceln. Ganz wichtig: Unterstützt regionale Produkte, das ist ähnlich wie bei Food! Es gibt so viele kleine regionale Labels, die tolle Produkte herstellen. Gerade die kleinen Firmen und handwerklichen Betriebe setzen auf Nachhaltigkeit und das kann man mit dem Kauf derer Produkte unterstützen.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Julia, und ich freue mich auf das Panel in Berlin!

 

Veranstaltungstipp in eigener Sache:

Masterclass auf der K5 Future Retail Konferenz

Nachhaltige Wertschöpfung in der Fashion-Branche

am 4. Juni 2019 um 14 Uhr im Estrel Berlin

 

 

Weiterführende Links

Studie: Nachhaltigkeit in der Mode

Recycling am Limit: Altkleiderbranche erstickt im Textilmüll

Verwandte Themen auf changelog

Ethische Innovation: Werte sind das neue Bio

Digitalisierung für die Tonne: Müllvermeidung im Handel

 


Dr. Florian Ilgen Keynotespeaker TDWI München

„Erfolg ist der größte Feind von Veränderung“

Kann jemand, der sich Mentalist, Motivator und Psychic Entertainer nennt, etwas zum Thema Digitalisierung beitragen? Ich muss gestehen ich war skeptisch... und sehe nun klarer: Denn im Gespräch mit Dr. Florian Ilgen, promovierter Chemiker und Top 100 Redner für Unternehmen wie IBM, Rolls Royce, SAP oder Novartis, habe ich gelernt, dass mentale Agilität und Motivation SEHR viel mit Veränderung zu tun haben. Und warum es vor allem erfolgreichen Unternehmen so schwer fällt, sich auf die Digitale Transformation einzulassen.

Lieber Herr Ilgen, mit Ihren Vorträgen möchten Sie unser Bewusstsein für typische menschliche Verhaltensweisen schärfen und Wege zeigen, wie wir aus gelernten Mustern ausbrechen können. Warum ist das gerade heute so wichtig?

Wir leben in einer Zeit rasanter Veränderungen. Ob man diese Veränderung positiv oder negativ wahrnimmt, kommt auf das jeweilige Mindset an. Und genau an dieser Stelle komme ich ins Spiel, denn man kann das eigene Mindset beeinflussen und trainieren. Ich möchte Menschen zeigen, welche archaischen Muster für unsere Ängste verantwortlich sind und helfen, diese zu überwinden. Denn eines ist klar: Veränderung ist nur möglich, wenn man auch bereit ist, sich selbst zu verändern.

Warum ist es so schwer für Menschen, sich zu verändern?

Veränderung an sich ist in unserer Evolution nichts Besonderes. Es gab immer wieder Momente, in denen „Geschichte geschrieben“ wurde, wie z.B. der Buchdruck um 1450 oder die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Der Mensch ist aber ein Gewohnheitstier und wenn etwas jahrelang gut geklappt hat, ist er schwer für Neuerungen zu gewinnen. Erfolg ist sozusagen der größte Feind von Innovation bzw. Veränderung.

Wie reihen Sie die aktuelle Situation mit der Digitalisierung in die historischen Veränderungen unserer Menschheitsgeschichte ein?

Das Neue an unserer digitalen Transformation ist die Geschwindigkeit. Heute werden etablierte Systeme von jungen, agilen Unternehmen Stück für Stück demontiert und das innerhalb von wenigen Jahren. Wir haben heute – anders als noch vor 150 Jahren -  nicht mehr Jahrzehnte Zeit, um uns mit neuen Technologien, neuen Berufen, neuen Geschäftsmodellen auseinanderzusetzen. Die Digitale Transformation ist Veränderung im Hochgeschwindigkeitsanzug.

Dann sehen Sie in der Digitalisierung gar nicht so sehr eine technologische Herausforderung sondern viel mehr eine menschliche?

Genau. Die Digitalisierung ist nur auf den ersten Blick eine rein technologische Angelegenheit. Tatsächlich aber geht es um den Menschen, um seine Einstellung. Es ist der Mensch, der die Transformation anstößt, umsetzt und weiterentwickelt – oder eben nicht. Transformation findet im Kopf statt, das Produkt ist dann nur das Ergebnis.

Unternehmer beklagen oft, dass Mitarbeiter den Wandel nicht mittragen – aber auch umgekehrt. Was läuft da schief? 

Ich habe gerade erst eine Studie gelesen, die besagt, dass 1/7 aller Angestellten ihre Arbeit lieben, 1/7 haben bereits innerlich gekündigt und die restlichen 5/7 machen nur Dienst nach Vorschrift. Es geht mir um genau diese 5/7! Das ist doch ein Riesenpotenzial! Denen muss man helfen und vor allem Sinn geben.

Und wie schafft man das?

Es geht um Vertrauen! Führung muss Vorbild sein. Es ist essentiell, dass Führungspersonen die Transformation leben, sie verstanden haben und von ihr überzeugt sind. Und das müssen sie an ihre Mitarbeiter weitergeben können. Mitarbeiter brauchen eine klare Vision! WARUM soll jemand seinen Job nicht mehr so sondern anders machen? Wenn Mitarbeiter verstehen, weshalb etwas verändert wird, sind sie auch bereit, das neue Ziel zu unterstützen. Aber es müssen emotionale, sinnstiftende Ziele sein. Wenn es nur darum geht, 5 Prozent mehr Umsatz zu machen, zeigt sich kein Peak in der Motivationskurve. Wenn es aber um echten Kundennutzen geht oder z.B. um Umweltziele, sieht die Sache ganz anders aus.

Aber auch Unternehmer sind oft unsicher, welcher Weg der richtige ist...

Das stimmt. Aber ein bestimmtes Gefühl für den richtigen Weg haben die meisten! Bei diesem Szenario bekommt unsere Intuition ein sehr großes Gewicht. Mein neues Buch beschäftigt sich intensiv mit dem Thema und zeigt uns einen neuen Blick auf unsere Intuition und Wege, sie zu schärfen und erfolgreich zu nutzen - um am Ende bessere Ergebnisse zu erzielen. Interessanterweise haben sich bei meiner Forschungsarbeit zahlreiche Parallelen zu Deed Learning Mechanismen gezeigt.

Und was brauchen Mitarbeiter, um die neuen Visionen mitzutragen?

Neben der über allem stehenden Vision und dem klaren „Warum“ brauchen Mitarbeiter vor allem Entwicklungsspielräume. Wer mitdenkende Mitarbeiter haben will, muss sie auch machen lassen. Und man muss die Bedürfnisse der Mitarbeiter kennen, ernst nehmen und berücksichtigen. Daraus ergibt sich dann eine intrinsische Motivation, bei der das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird. Das macht zufrieden und gleicht sogar das Stresshormon Adrenalin aus. Die Konsequenz: Wir tun mit Freude etwas Neues und haben dabei keine Angst bzw. keinen Stress.

Vielen Dank für das interessante Interview!

Weiterführende Links: 

Vorschau: Dr. Florian Ilgen auf der TDWI München

Website von Dr. Florian Ilgen

Neues Buch "Macht der Intuition" von Dr. Florian Ilgen

 

 


Raphael Gielgen, Vitra

Vitra Trendscout Raphael Gielgen: „Wir müssen wieder anfangen, Zukunft zu gestalten!“

Auf dieses Interview habe ich mich besonders gefreut, denn Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work beim Kult-Unternehmen Vitra und einer der interessantesten Visionäre unserer Zeit. Ich war aber auch etwas nervös, denn wie es bei den Damen und Herren dieser Berufsgruppe oft der Fall ist, muss man ganz schön schnell sein, um bei der Geschwindigkeit ihrer Gedanken Schritt halten zu können! Wer ebenfalls eine geballte Ladung Inspiration so kurz vor Ostern gebrauchen kann, der sollte jetzt weiterlesen: Denn Raphael spricht über die Trends zum Thema Arbeit und verrät eine Übung für Unternehmer, wie sie die Transformation angehen können.

Lieber Raphael, Du bist Trendscout bei Vitra. Was genau machst Du dort und warum braucht Vitra so jemanden wie Dich?

Es geht darum, „Beweger einer neuen Zeit zu finden“, neue Muster zu entdecken, die das Potential zum Trend haben. Wir leben heute in einer Welt, die uns wunderbar in Standards organisiert. Viele Menschen haben verlernt, nach rechts und nach links zu schauen, geschweige denn nach vorne. Meine Arbeit ist genau das. Mein Schwerpunkt ist die Arbeitswelt. Ich erstelle, wenn man so will, die Wetterkarte für die Piloten, aber die Flugrichtung entscheiden und fliegen müssen sie selbst.

Kannst Du uns einen wichtigen Trend zum Thema Arbeit der Zukunft nennen?

Die Fähigkeit, in dynamischen Gruppen und Formen zu arbeiten, wird für die Entwicklung einer wissensbasierten Wirtschaft immer wichtiger. Wissen muss leicht teilbar sein, denn nur so kann es schnell weitergegeben werden. Und Schnelligkeit ist ein klares Merkmal unserer Zeit, genau wie der Zustand, dass alles gleichzeitig passiert. Verbindet man das Wissen von AI-Forschern mit dem von Elektronikingenieuren, entsteht daraus ein ganz neues Produkt und ganz neues Wissen. Dynamik heißt in diesem Zusammenhang auch, bereit zu sein, stets Neues zu lernen. Ich benenne das gerne mit dem Schlüsselbegriff „Talent Transfer“. Menschen gehen heute und erst recht in der Zukunft nicht mehr in ihrem Ausbildungsberuf in Rente. Wir müssen - auch in den Unternehmen – eine Kultur des Lernens etablieren.

Und wie schafft man das?

Indem man Raum für Inspiration schafft und Arbeit sichtbar werden lässt. Viele Entwicklungen gehen heute schon in diese Richtung. Es gibt Methoden wie Scrum, Business Model Canvas oder Design Thinking. Diese bestimmen immer mehr unser Tun. Der größte Benefit dieser Form der Arbeit ist das Teilhaben.

Inwieweit beeinflusst Technologie unsere zukünftige Arbeit?

Die Software von gestern ist morgen nichts mehr wert, genau wie die Hardware. Wir denken zu wenig darüber nach, dass die digitale Welt einer Kulisse gleicht. Wie Technologie unsere Arbeit beeinflusst, das bestimmen wir, aber auch was wir mit diesen vielen Möglichkeiten machen. Am Ende kann man die Leute nur einladen, sich damit auseinanderzusetzen, daran zu wachsen – mit dem Ziel, Technologie schließlich als Werkzeug für die Entwicklung größerer Ideen und Visionen zu benutzen.

 

"Technologie ist ein Werkzeug, sehr umfangreich, aber auch schnelllebig. Die Menschen machen auch in Zukunft den Unterschied." Raphael Gielgen

 

Wie siehst Du das Spannungsfeld „digitale Welt – physische Welt“ am Arbeitsplatz? Bekommt die physische Welt mehr Bedeutung, weil wir einen Großteil unserer Zeit heute in der digitalen Welt verbringen?

Der Mensch hat eine Sehnsucht nach physischen Orten. Je mehr wir digital konsumieren, umso mehr suchen wir eine Balance. Spannend wird es, wenn die Entwicklungen der virtuellen Technologien den nächsten Sprung machen. Wenn wir Wirklichkeit und Fiktion kaum unterscheiden können. Steven Spielbergs letzter Film „Ready Player One“ gibt uns einen ersten Geschmack auf diese Zeit. Anderseits gehen die Menschen zum „Waldbaden“, suchen Kraftorte auf und zelebrieren spirituelle Rituale.

Welches Umfeld braucht der Mensch in Zukunft, um den Arbeitsanforderungen gewachsen zu sein?

Menschen können heute 100 Jahre alt werden. Das verändert unser Bewusstsein für unsere Umgebung, unsere Umwelt und unseren Arbeitsplatz. Die Kinder von heute werden morgen keinen Arbeitsplatz wollen, indem sie nur Zahnrad in einem abstrakten Gebilde sind. Als Konsequenz müssen Unternehmen das Zusammenspiel von Produktivität und Vitalität überdenken. Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Mitarbeitergesundheit spielen in Zukunft eine immer größere Rolle. Man muss sich nur den Adidas-Neubau „Halftime“ in Herzogenaurach ansehen oder das noch im Bau befindliche Porsche-Werk für den Elekto Taycan, in dem es große hängende Gärten gibt. Diese haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter.

Du reist viel herum und siehst viel, auch Ideen und Trends aus Ländern und Gesellschaften, die gerne als unser Zukunftsmodell verkauft werden. Was sollten wir Europäer auf jeden Fall übernehmen?

Ganz klar die Neugier! Gerade die jungen Gesellschaften in Südostasien oder in den schnell wachsenden Metropolen wie Shenzhen sind viel neugieriger als wir Europäer – was auch daran liegen mag, dass sie im Schnitt viel jünger sind als wir.

Gibt es auch Entwicklungen, die wir besser nicht adaptieren sollten?

Ich habe nichts gesehen, was grundsätzlich schlecht wäre. Natürlich kann man alles auch für weniger wünschenswerte Ziele einsetzen. Ich denke hier zum Beispiel an die militärische Nutzung von Technologie. Auch die übermäßige Nutzung von Technologie kann man kritisch sehen, aber hier ist jeder einzelne selbst gefragt, etwas dagegen zu tun.

Wenn ein Unternehmer auf Dich zukommt und um Rat bittet, wie er die Transformation angehen soll, was würdest Du ihm sagen?

Ich empfehle gerne die nachfolgende Übung: Stellen Sie sich regelmäßig zwei Fragen: Was gibt es in zehn Jahren in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch nicht gibt? Wie wird dieses „Neue“ Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Was gibt es in zehn Jahren nicht mehr in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch gibt? Wie wird dies Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Jeden einzelnen Punkt würde ich dann in eine Skizze aufnehmen und auf einem großen Plakat am Arbeitsplatz aufhängen. Was glaubst du, was für eine angeregte Diskussion mit Mitarbeitern und Kollegen daraus entsteht! Plötzlich sieht der Unternehmer eine Perspektive für die Zukunft und kann diese proaktiv gestalten. Und die Mitarbeiter wissen, warum etwas gemacht wird.

"Eigentlich ist es so einfach! Wir haben nur irgendwann aufgehört oder verlernt, in einer längeren Perspektive zu denken und Zukunft zu gestalten." Raphael Gielgen

Danke Raphael für das superinteressante Interview!

Raphael Gielgen am 24. Juni 2019 auf der TDWI München

Wer Raphael gerne live erleben möchte, kann das am 24. Juni 2019 auf der TDWI München tun. Dort wird er die Keynote halten mit dem Thema "Die Kunst, seine persönliche Zukunft ständig neu zu erfinden"! Es lohnt sich! Hier geht's zur Konferenz: www.tdwi-konferenz.de

Links:

www.Vitra.com
www.tdwi-konferenz.de


Tijen-Onaran-und-Dorothee-Baer

Dorothee Bär und Tijen Onaran im Gespräch:
Wie ist es um Deutschlands Digitalkompetenz bestellt?

Auf dem Kick-off für das Förderprogramm „Unternehmerinnen der Zukunft“ letzte Woche in Berlin treffe ich mich mit zwei Frauen, die für Digitales brennen. Netzwerk-Queen Tijen Onaran, Gründerin der Global Digital Women und Deutschlands Digitalbotschafterin Dorothee Bär, Staatsministerien für Digitales im Bundeskanzleramt. Im Interview spreche ich mit den beiden über die Digitalkompetenz junger Menschen und wie wir sie darin für die Zukunft fit machen können. Eines wird mir bei dem Gespräch bewusst: Man muss sich frei machen von Bedenkenträgern und zum Gestalter werden. Jede(r) einzelne unter uns.

Die Digital Natives kommen nach und nach als Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt. Ist ihnen Digitalkompetenz quasi angeboren?

Dorothee Bär: Also das kann ich so nicht bestätigen. In Gesprächen vor allem mit jungen Menschen aus der Generation Z fällt mir immer wieder auf, dass sie hohe Forderungen stellen, mir fällt da das Stichwort Work-Life-Balance ein, aber nicht bereit sind, sich mit neuen Dingen auseinanderzusetzen. Sie konsumieren digital, das ist bei vielen aber auch schon alles. Man spürt eine gewisse Sattheit.

Tijen Onaran: Digital affin ist nicht dasselbe wie digital kompetent. Die digitale Welt ist mehr als das Smartphone zu benutzen. Ich muss schon verstehen, welche Algorithmen dahinter stehen, ich muss kritisch hinterfragen was hinter Search, Voice, Social Media und Online-Shopping steckt und den Gesamtkontext verstehen. Und das muss man eigentlich schon von Kind auf lernen.

Stichwort Bildung und Digitalkompetenz.  Bildung liegt in staatlicher Hand und es ist offensichtlich, dass der klassische deutsche Bildungsweg noch lange nicht die Entwicklung digitaler Kompetenzen abdecken wird.

Dorothee Bär: In Sachen digitaler Bildungspolitik ist der Föderalismus ein Totengräber und scheitert an drei großen „B“s: Bremser, Bedenkenträgertum und Befindlichkeiten. Wir diskutieren bei der digitalen Bildungspolitik tatsächlich nicht um das „Wie?“ sondern immer noch um das „Ob!“. Für mich ist das kaum zu ertragen, aber ich muss mit den Rahmenbedingungen arbeiten, die gegeben sind.

Immerhin, der Digitalpakt ist durch …

Dorothee Bär: Der Digitalpakt ist ein Anfang, wenn auch nur ein kleiner. Auf Landesebene gibt es verschiedene Initiativen sowohl inhaltlich für digitale Lernkonzepte als auch technisch für die digitale Infrastruktur, die ich mit vollem Engagement unterstütze. Das ist aber momentan ein kompletter Flickenteppich. Aber ganz ehrlich: Man muss ja irgendwo anfangen! Wenn man digitale Projekte aufsetzen wollen würde, die flächendeckend in Schulen in ganz Deutschland umgesetzt werden sollten, könnten wir noch Jahre warten, bis etwas passiert.

Was würden Sie Eltern raten, was sie ihren Kindern mitgeben können, um diese Digitalkompetenz außerhalb der Schule zu erlernen?

Dorothee Bär: Ich muss mich manchmal wundern, dass es gerade die Eltern sind, die Einführung digitaler Inhalte und Technologien an Schulen verhindern wollen, vor allem die Bildungsbürger. Nur ein Beispiel: Ich habe vor kurzem eine Zuschrift eines besorgten Vaters  bekommen, der sich beklagte, WLAN in Schulen sei das neue Asbest.

Tijen Onaran: Jeder versteht unter Digitalkompetenz etwas anderes – die einen meinen eher IT und Programmieren, die anderen New Work, die nächsten Social Media. Fakt ist, digitale Tools sind nur Mittel zum Zweck. Man muss den Teenagern den Mut und die Unterstützung geben, sich eigene Standards zu setzen und den Raum für digitale Erlebbarkeit schaffen. Es gibt so viele Möglichkeiten, gerade durch digitale Vernetzung. Mentoring, Coaching, neue Berufsbilder. Dafür müssen Eltern ihre Kinder schon im Teenager-Alter sensibilisieren.

 

v.l.: Tijen Onaran, Vera Vaubel und Dorothee Bär im Gespräch beim #UdZ Kick-Off in Berlin. / Foto: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

 

Wie sieht es in den Behörden und in der Politik in Sachen Digitalkompetenz aus?

Dorothee Bär: Das kommt immer auf die individuellen Personen an. Da gibt es Licht, aber auch noch viel zu viel Schatten. Momentan ist es so, dass manchmal Kollegen auch mit der Bitte an mich herantreten, Inhalte über mein digitales Netzwerk zu kommunizieren, weil ich einfach die Reichweite damit habe.

 

„Ich habe manchmal das Gefühl, auf Twitter sind nur Politiker, Journalisten und Psychopathen unterwegs. Das ist aber für mich kein Grund, mein Account abzustellen, wie manch anderer Kollegen das getan hat. Eher im Gegenteil!“ Dorothee Bär

 

Sie haben mittlerweile auf Instagram über 25.000 Follower…

Dorothee Bär: Ja, ich glaube für eine Politikerin ist das schon ganz ordentlich, ansonsten natürlich sehr gering. Ich habe mir die Frage gestellt, wie schafft man es, Politik in Bildern darzustellen? Das ist nicht einfach. Ich habe mir die Reichweite auf Instagram mühsam aufgebaut – das war zeitintensiv, bis ich die ersten 1000 Follower zusammen hatte. Aber das gehört auch zur Digitalkompetenz: Man hat nicht mal eben eine Followerschaft, das hat viel mit Inhalten und Botschaften zu tun, mit Authentizität.

Durch Social Media entwickeln wir uns immer mehr in Richtung Netzwerkgesellschaft. Tijen, die Global Digital Women sind das beste Beispiel dafür. Welche Vorteile bringt einem das digitale Netzwerk?

Tijen Onaran: Ganz klar, man kann sich mit anderen Talenten zunächst digital vernetzen, und in Kontakt treten. Ein ganz wichtiger Punkt: Dein Netzwerk ist nur so gut, wie unterschiedlich die Talente darin sind. Ich kann durch digitale Kanäle auf meine Leistung und meine Kompetenzen aufmerksam machen, ohne dass ich von Vorgesetzten abhängig bin.

 

„Digitale Netzwerke sind nicht nur dafür da, um über Erfolge zu sprechen. Es geht um Wissenstransfer. Es darf auch um Rat gefragt werden.“ Tijen Onaran

 

Welche Skills muss man haben, um eine Rolle in dem Netzwerk zu spielen?

Tijen Onaran: Es geht nicht darum, eine Rolle zu spielen. Es geht darum seine eigene Geschichte zu erzählen. Sich sichtbar zu machen und nahbar zu sein. Authentisch sein.

Dorothee Bär: Das kann ich nur unterschreiben. Ich habe viel Erfahrung sowohl mit Shitstorms als auch mit Stereotypen. Aber seitdem ich für mich definiert habe, wer ich bin und wofür ich stehe, kann ich diesem Schubladendenken entkommen. Das prallt an mir ab.

In der Presse werden Sie oft als Botschafterin für Deutschlands Digitalisierung bezeichnet. Versteht das der Otto Normalverbraucher?

Dorothee Bär: Die Digitalisierung ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern oft noch negativ konnotiert. Eine große Skepsis und Ängstlichkeit ergibt sich daraus, dass die Digitalisierung als ein abstraktes Gebilde wahrgenommen wird, das viele Leute noch nicht greifen können und sich dadurch bedroht fühlen. Auf Veranstaltungen kommen Leute auf mich zu und fragen mich: „Frau Bär was ist die Digitalisierung überhaupt und was bedeutet sie für mich?“ Da bedarf es noch viel Aufklärungsarbeit. Den Leuten ist es wichtig, dass es dafür Ansprechpartner gibt. Daneben habe ich im Bundeskanzleramt natürlich noch andere wichtige Rollen, die viel Koordinierung der Digitalpolitik auf den unterschiedlichen Ebenen bedeuten und teilweise sehr operativ sind.

Tijen Onaran: Ich habe selbst lange in der Politik gearbeitet um sagen zu können, dass ich wirklich stolz bin, dass wir endlich in der deutschen politischen Landschaft eine Digitalbotschafterin wie Doro Bär haben. Sie verbreitet den Optimums und die Aufbruchsstimmung, die wir dringend nötig haben. Man muss bei den Menschen erst mal das Mindset und die Awareness schaffen, um die Digitalisierung in Deutschland zu gestalten. Und da ist sie genau die richtige Person.

 Vielen Dank für das Gespräch, ihr beiden!

Weiterführende Links

Förderprogramm Unternehmerinnen der Zukunft

Netzwerk Global Digital Women

 

 


Antenne Bayern CDO Sven Rühlicke

Antenne Bayern CDO Sven Rühlicke: „Man muss den Mut haben, sich selbst zu kannibalisieren, sonst tun es andere!“

Sven Rühlicke ist Digitalchef von Antenne Bayern. Sein Karriereweg dorthin führt ihn über die Vermarkterschiene. Im Jahr 2002 habe ich Sven als Nachfolger im Sales Team von Antenne Bayern eingearbeitet, als ich mich zum ersten Mal in den Mutterschutz verabschiedete (damals gab es noch keine Elternzeit!). 2014 steigt er zum Geschäftsführer der Vermarktungsgesellschaft SpotCom auf, die er zu einem der führenden nationalen Webradio-Vermarkter ausbaut und wesentlich dazu beiträgt, den Online-Audio-Markt in Deutschland zu entwickeln. Die Wiedersehensfreude ist groß, vor allem, weil wir uns über das gemeinsame Leidenschaftsthema digitale Transformation unterhalten können. Sven ist einerseits ein Stratege, er denkt auf der Metaebene, andererseits ein Macher, der Dinge gerne zügig auf die Straße bringt. In einem sehr intensiven Hintergrundgespräch gibt er Einblicke, wie ein regionaler Privatsender sich digital transformiert.

Radio erlebt ja eine Art Renaissance, die Auswahl für Hörbegeisterte ist riesig. Wie erlebt ihr das als Privatsender, die ihr eine 30-Jährige Unternehmenstradition habt?

Wir beobachten schon seit Jahren, dass die Audio Nutzung wächst. Die Leute sind gesättigt vom Bildschirm. Der Trend geht zum Audio-Konsum, das belegen Studien. Davon profitiert auch das klassische Radio, quasi als ständiger Begleiter durch den Tag. Im Gegensatz zu TV läuft Radio daher sowohl wirtschaftlich als auch von der Reichweite immer noch sehr gut.

Also gäbe es eigentlich gar keinen Grund für einen Chief Digital Officer bei Antenne Bayern?

Radio ist ein lineares Produkt und rein werbefinanziert. Antenne Bayern ist allein schon von der Marke regional limitiert und stößt an ihre Grenzen. Von der technischen Reichweite mal ganz abgesehen. Wenn wir die Entwicklungen im Audio-Bereich der letzten Jahre mal beim Namen nennen: Musik-Streaming, Podcast, User Generated Radio und auf der Device-Seite mit Smartphone und Smartspeaker, dann wird schnell klar, dass mit steigender IP-Verbreitung 'Weitermachen wie bisher' keine Option ist.

Was sind eure Pläne in Sachen Digitalisierung?

Wir müssen Teilmärkte definieren, die durch die Digitalisierung entstehen und entscheiden, welche wir in frühem Stadium besetzen können und welche Geschäftsmodelle sich daraus für uns entwickeln. Und ja, natürlich bedeutet das, dass man zunächst investieren muss. Ein Beispiel dafür ist unser „Song-Duell“, die Voice-App für In-car Entertainment, die wir in Kooperation mit Amazon im Februar gelauncht haben. Damit werden wir anfangs sicherlich keinen Massenmarkt erreichen.

 

"Es geht darum, bei den neuesten technologischen Entwicklungen mit dabei zu sein und Felder zu besetzen."

 

Gibt es schon Learnings aus der Entwicklungsphase der Voice-App bzw. der Zusammenarbeit mit Amazon?

Ja, ein ziemlich positives. Uns wurde bewusst, dass wir als Radiomacher und Sender wirklich ein absoluter Kompetenzträger in Sachen User Experience Design für Audio Formate sind. Die gilt es mit den Technologien zusammen zu bringen, einen frühen Markteintritt sicherzustellen und dann haben wir auch eine Chance, weiterhin ganz vorne mitzuspielen.

Letzte Woche folgte der nächste Paukenschlag. Ihr habt das Podcast Netzwerk lautgut gelauncht, warum eine neue Marke?

Auch dieser Schritt gehört neben der Beteiligung an laut.fm zur Digitalstrategie. Wir wollen den Teilmarkt Audio-on-demand mit Premium-Content bedienen. Bewusst unter einer neuen Brand, um neue nationale Zielgruppen zu erschließen. Das bedeutet im ersten Schritt: Aufbauarbeit und Investitionen. Aber mit unserer bestehenden Infrastruktur können wir zu Anfang ganz gut kostendeckend arbeiten. Welches Geschäftsmodell sich daraus entwickeln wird, wird sich zeigen. Ich habe mit Gimlet-Gründer Matthew Lieber dazu auf meiner USA-Reise vor zwei Wochen gesprochen, der mit seinem US-Podcast-Label gezeigt hat, dass es sich lohnt, hier zu investieren und vor allem durchzuhalten! Premium Content ist der Schlüssel für Podcast, das sehen wir beide so.

Voice & Podcast US-Business-Trip im Februar 2019, v.l.: Antenne Bayern Manager Ruben Schulze-Fröhlich und Sven Rühlicke bei Gimlet-Gründer Matt Lieber

Seid ihr damit auf dem Weg, euch als Radiosender digital zu transformieren?

Digitale Transformation ist für uns nicht auf die Veränderung in der Digitalen Performance beschränkt. Es geht dabei nicht nur darum, digitale Kanäle wie einen Live-Stream oder einen Facebook Kanal zu bespielen. Das ist State of the Art und das können wir auch schon ganz gut. Nein, es geht um einen Change Prozess, der in der jetzigen Phase des Reifegrads enorme Anstrengung kostet. Und wenn man ehrlich ist, der nie zu Ende sein wird.

In welcher Phase befindet ihr euch in diesem Prozess?

Ich würde sagen, dass wir gerade an einer Schwelle sind, die echte Transformation anzugehen. Dafür schaffen wir die Voraussetzungen, ich nenne es mal „Digital Readiness“. Und die betrifft eher strukturelle Themen wie Organisation, Prozesse, Leadership und Unternehmenskultur. Das ist viel schwieriger, weil schlechter greifbar. Und das ist auch kein Projekt von sechs oder zwölf Monaten, sondern ist eine echter Veränderungsprozess.

Wie organisiert ihr das innerhalb der Unternehmensgruppe?

Uns ist es wichtig, dass wir mit der Transformation die Chancen sehen und den Changeprozess positiv angehen. Mit Objectives and Key Results (OKR) haben wir eine neue Führungsmethode eingeführt, die noch mehr Transparenz schafft. Und wir reden nicht den ganzen Tag von digitaler Disruption und geraten in Schockstarre vor dem was da kommt, sondern wir haben mit digitalen Innovationsthemen Geschäftsfelder definiert, die wir angehen. Um auch hier integrativ vorzugehen wurde mit Business Development ein hybride Abteilung aufgebaut, die sich aus Kompetenzträgern aus den verschiedensten Bereichen zusammensetzt, IT, Programm, Kommunikation etc.

Auf welche Grenzen seid ihr bisher gestoßen?

Bei den ganzen Neuerungen im digitalen Bereich besteht das große Risiko, sich zu verzetteln. Es tun sich ja so viele Möglichkeiten auf. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass es noch nie so wichtig war, eine klare Vision vor Augen zu haben und diese mit einer ganzheitlichen Strategie zu untermauern. Und von diesem Weg sich nicht abbringen lassen. Das heißt nicht, dass es keine Rückschläge geben wird.

 

"Man muss die Ziele konsequent verfolgen und mit fokussierten Projekten auf die Straße bringen."

 

Und wie lautet die Vision für Antenne Bayern?

Wir wollen das Audio-Entertainment-Haus im deutschsprachigen Raum werden.

Das klingt erst mal abstrakt. Kannst du eine konkrete Maßnahme nennen, die euch auf diesen Weg bringt?

Neben weiterem Content-Aufbau wie z.B. dem eigenen Podcastlabel, haben wir bereits in den letzten zwei Jahren eine ganzheitliche Dateninfrastruktur geschaffen, die uns in Zukunft ermöglicht, datenbasiert und personalisiert zu agieren. Ziel ist es, die Infrastruktur und Logistik zu schaffen, die uns maximale Flexibilität in der Versorgung und Ausspielung von Audio Content ermöglicht. Keiner weiß, was in fünf bis zehn Jahren an Technologien zur Verfügung steht. Fakt ist nur, dass es datenbasiert sein wird. Dafür müssen wir uns rüsten.

Du bist ja sicherlich innerhalb der Unternehmensgruppe nicht immer auf offene Ohren gestoßen mit deinen Digitalisierungsplänen?

Die größte Hürde ist eigentlich, wenn das klassische Geschäft erfolgreich läuft. Wenn der Handlungsdruck nicht groß genug ist. Denn dann muss man sich die Frage stellen, wie disruptiv gehe ich eigentlich mit meinem Kerngeschäft um? Das Risiko besteht durchaus, dass man auf dem Ast sägt, auf dem man sitzt – um es mal bildlich zu beschreiben.

Und wie gehst du persönlich damit um?

Man braucht Durchhaltevermögen und Standhaftigkeit, um konsequent seine Strategie zu fahren. Und Mut gehört dazu, sich selbst zu kannibalisieren. Ich gehe diesen Weg einfach, weil ich davon überzeugt bin, das Richtige zu tun.

Wie bindest du dabei die Mitarbeiter ein?

Wichtig ist, eine positive Dynamik zu erzeugen, d.h. für mich, die Mitarbeiter*innen mitzunehmen. Ihnen Chancen, Gestaltungs- und Handlungsspielräume aufzeigen. Wir bieten in Schulungen und Workshops persönliche und fachliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Das ist ein Angebot, was man annehmen kann oder auch nicht.

Ist es besonders schwierig, die langjährigen Mitarbeiter bzw. die aus der älteren Generation auf diesem Weg mitzunehmen?

Interessant, dass du das fragst. Meine Erfahrung ist, die Altersklischees stimmen nicht. Es gibt Mitarbeiter aus der Generation 50+, die sich total begeistern lassen und dann die unter 30-Jährigen, die nicht zum Umdenken zu bewegen sind – ich habe alles schon erlebt.

Du hast vorhin deine Voice & Podcast Reise angesprochen, hast dort einige Unternehmer aus der Szene, u.a. Gimlet und New York Times getroffen. Was konntest du mitnehmen?

Vor fünf Jahren haben deutsche Unternehmen noch Pilgerfahrten ins Silicon Valley unternommen, um den großen, ja fast unnahbaren Vorreitern zu lauschen. Heute ist das eine Begegnung auf Augenhöhe, wie ich finde. Klar, in den USA sind sie uns immer noch 2-3 Jahre in den Entwicklungen voraus, aber sie stecken genauso in den operativen Umsetzungsthemen wie wir. Von daher muss ich sagen, war der fachliche Austausch wirklich sehr konstruktiv und positiv.

Findest du diesen Austausch auch hier in Deutschland?

Ja, klar! Ich habe mich dem CDO Executive Circle angeschlossen, da sind Traditionsunternehmen wie BMW oder Deutsche Telekom vertreten, aber auch Hidden Champions, die in ihren Nischen zwar teils zur Weltspitze gehören, sich aber trotzdem transformieren müssen. Andere Branchen stehen vor denselben Herausforderungen, vor allem was die Veränderung zu strukturellen Themen wie Organisation, Prozesse und Unternehmenskultur betrifft. Da finden sich oft Parallelwelten.

Vielen Dank, lieber Sven, für die Insights!

Weiterführende Links:

Führungsmethode OKR

Premium-Podcast-Netzwerk lautgut

CDO Executive Circle


Kuchentratsch-Gründerin Katharina Mayer

Kuchentratsch-Gründerin Katharina Mayer im Interview:
„Man kann nur im Austausch mit anderen lernen“

Omakuchen für alle als Geschäftsmodell? Katharina Mayer wagt den Schritt und gründet das soziale Start-Up "Kuchentratsch". Das süße Konzept dahinter: Senioren produzieren gemeinsam in einer Münchener Backstube hausgemachte Kuchen, können dabei neue Kontakte knüpfen und als Mini-Jobber ihre Rente aufbessern. Verkauft werden die Kuchen in ausgewählten Cafés und über den Onlineshop. Ein Projekt, bei dem auch die „Die Höhle der Löwen“ Jury zuschlagen muss: Dagmar Wöhrl und Carsten Maschmeyer investieren zusammen 100.000 Euro, die Kuchen-Lady gibt zehn Prozent ihrer Firmenanteile ab. Auf der K5 Female in Retail treffe ich Katharina und spreche mit ihr über ihren unternehmerischen Spirit und ihre Erfahrungen mit ihrem sozialen Start-Up.

Bei deinem Start-Up geht es dir ja vor allem darum, gesellschaftliche Aspekte unternehmerisch zu lösen. Vor welchen Herausforderungen stehen wir dabei in Deutschland?

Der demographische Wandel ist eine riesige Herausforderung! Mittlerweile ist das Thema unter den Stichworten “Altersarmut” und “Alterseinsamkeit” auch auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda angekommen. Bisher gibt es eine lose Ansammlung von Ideen, Projekten, Fördergeldern, Ansätze in diesem Bereich. Wir freuen uns Teil von dieser Bewegung zu sein, die Antworten und Ideen zu der Frage “Wie wollen wir alt werden?” liefern.

 

https://www.youtube.com/watch?v=IrqJHPWRjbk

 

Denkst du denn, der demografische Wandel hat das Potenzial, unternehmerisch bzw. privatwirtschaftlich gedacht zu werden?

Ich glaube, das Ganze rein auf die Privatwirtschaft abzuwälzen, ist auch keine Lösung. Soziale Themen müssen auch von der Politik mitgedacht werden. Trotzdem denke ich, dass wir als „Social Start-up“, bei dem die Kombination zwischen wirtschaftlichem Ansatz und sozialem Wirken Erfolg hat, vielleicht so eine Art Experiment für Großunternehmen sein können. Wir sind sozusagen der lebende Beweis: hey, schaut mal, ein soziales Unternehmen kann auch profitabel sein! Vielleicht gerade weil die Kunden soziale Verantwortung und Werte schätzen und deshalb bewusst bei einem solchen Unternehmen wie Kuchentratsch einkaufen.

 

„Mit meinem sozialen Start-Up will ich sichtbar machen, dass man sich nicht nur im Ehrenamt engagieren kann, sondern auch in seinem Arbeitsumfeld Gesellschaft positiv gestalten kann.“

 

Siehst du für dein Start-Up eine kritische Größe, wo es - so wie es jetzt läuft - nicht mehr funktionieren könnte?

Für Kuchentratsch sehe ich sehr viel Potenzial für die Zukunft. Unser Konzept ist auf jeden Fall wachstumsfähig. Umso mehr Oma und Opas wir beschäftigen können, umso mehr erreichen wir unser Ziel. Wie in jedem Unternehmen gibt es gewisse Wachstumshürden zu überwinden. Wir sind positiv gestimmt, dass wir diese meistern werden. Uns freut es in der Praxis zu sehen, dass unsere Idee, gesellschaftliche Herausforderungen mit einem wirtschaftlichen Modell anzugehen, tatsächlich funktioniert und zukunftsfähig ist.

Woher hast du den Mut genommen, dich auf eigene Beine zu stellen und nicht einen klassischen Berufseinstieg bei einem Unternehmen zu wählen?

In meinem Studium habe ich mich stark mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinander gesetzt. Mir war klar, dass ich im Anschluss in einem Bereich arbeiten möchte, in dem ich eine positive Wirkung auf die Gesellschaft haben kann. Ich war schon immer ein Machertyp und konnte mich im klassischen Großkonzern und meist konservativen Stiftungsbereich nicht unbedingt wieder finden. Als ich die Idee zu Kuchentratsch hatte, war mir klar: Das muss ich jetzt einfach ausprobieren.

Wie kamst du auf die Idee dich mit deinem Start-Up bei Höhle der Löwen zu bewerben?

Ich hatte das Gefühl, dass wir mit Kuchentratsch im letzten Jahr am richtigen Punkt standen uns dieser Herausforderung zu stellen. Der deutschlandweite Kuchenversand war bereits gut angelaufen und wir brauchten ein höheres Investment, um diesen noch weiter auszubauen. Zudem war unser Online Shop bisher nur selbst zusammengebastelt, also haben wir das restliche Investment in den Relaunch unserer Website gesteckt.

 Was erwartet einen bei der Sendung und bzw. welche Erwartungshaltung hattest du selbst?

Ich selbst hatte die Erwartung, dass Opa Norbert und Oma Anni unsere Idee super persönlich vorstellen können, hatte jedoch nie im Leben mit einem Investment gerechnet. Umso schöner war es dann, als Dagmar Wöhrl und Carsten Maschmeyer uns einen Deal anboten und wir von allen Löwen außerordentlich tolles Feedback erhalten haben. Grundsätzlich erwartet einen ein wahnsinnig aufregendes und einmaliges Erlebnis: wir durften die “Löwen” vorher tatsächlich nicht sehen und waren dann schon ziemlich aufgeregt, als die Fünf - inklusive den ganzen Kameras - vor uns waren.

Was hast du aus der Zeit während der Dreharbeiten gelernt? Wie hat die Sendung dich verändert?

Es hat mir wieder gezeigt, dass es so ein wunderbares Gefühl ist, wenn man sich traut, mit seiner Idee rauszugehen. Man kann nur gewinnen und sei es, konstruktives Feedback zu bekommen. Die Sendung hat vor allem mein berufliches Leben beeinflusst. Ich habe tolle Anfragen als Speakerin bekommen seit dem Auftritt und darf zum Beispiel als Female Entrepreneurs of the Future - Coach tätig sein. Eine tolle Chance!

Stichwort Zeitmanagement. Wie arbeitest du bzw. wie organisierst du dich? Wie funktioniert das für dich in Zusammenarbeit mit älteren Menschen?

Ich versuche super strukturiert zu arbeiten, da ich tatsächlich sehr wenig Zeit für alles habe. Ich setzte mir für alle meine To-Dos fixe Termine und halte mich dann auch an meinen Kalender. Wo es geht, integriere ich digitale Medien, die mir Aufgaben abnehmen. Unsere Omas sind fast überwiegend per Mail erreichbar und mit Smartphones ausgestattet. Und die wissen auch: wenn sie mal Fragen haben, können sie immer beim Kuchentratsch-Büroteam anklopfen.

 

Soziales Start-Up Kuchentratsch: Oma Eva-Maria, Oma Moni und Oma Irmgard in der Münchner Backstube.

 

Wer sind deine Unterstützer und Mentoren? Kannst du dir eine solche Rolle auch für dich selbst vorstellen?

Mit meinem Team habe ich fantastische Unterstützer, die jeden Tag 150 Prozent geben, um die Idee von Kuchentratsch umzusetzen und weiterzuentwickeln. Bei der internationalen Entrepreneurs Organisation habe ich im Acceleratorprogramm tolle Peer to Peer Kontakte und den einen oder anderen Mentor gefunden. Dieses Umfeld unterstützt mich jeden Tag, mein Bestes zu geben. Als Coach bin ich ab Anfang März auch für das Format “Unternehmerinnen der Zukunft” von Amazon tätig und freue mich, mein Wissen weitergeben zu können.

Muss man als Gründer*in ein bestimmter Typ sein? Welche Charaktereigenschaften sind dafür wichtig? 

Eine gute Portion Selbstbewusstsein schadet auf jeden Fall nicht. Immer wenn man etwas wagt und präsentiert gibt es auch Menschen, die dein Ding oder dich selbst nicht gut finden. Steve Jobs hat mal gesagt: “If you want to make everyone happy, don’t be a leader, sell ice cream!”. Gleichzeitig hilft es, wenn man Geduld mitbringt. Ein Unternehmen startet nicht von heute auf morgen durch, da gibt es viele Höhen und Tiefen zu durchlaufen. Am wichtigsten ist es aber, dass man für seine Idee brennt. Erst dann entfaltet sich die Magie und die Bereitschaft an seine Grenzen zu gehen.

Welche Learnings würdest du weiter geben aus deiner bisherigen Lebensphase als Gründerin?

Machen, machen, machen! Das meiste lernt man in der Praxis und bei dem Sprung ins kalte Wasser. Und es gibt so viele Möglichkeiten, wie man seine Idee erstmal einfach austesten kann. Einfach einen Onlineshop aufsetzen und sagen, dass Produkt ist bald wieder verfügbar - schon sieht man, ob es dafür eine Nachfrage gibt. Immer wenn es möglich ist, seine Idee pitchen. Dabei merkt man, ob sie ankommt, wie man sie noch besser erklären kann und was die kritischen Punkte sind.

 

„Ich verstehe nicht, wie Menschen, aus Angst, ihre Idee würde geklaut werden, damit jahrelang alleine herumlaufen. Meiner Meinung nach kann man nur im Austausch mit anderen lernen.“

 

Hat man als Gründerin überhaupt noch ein Privatleben? Oder Hobbies?

Haha, ja, mein Terminplan ist wirklich eng und ich bin auch viel unterwegs. Das geht aber nur, weil mir meine Freizeit heilig ist – ich reise gerne, mache viel Sport und liebe es, in der Natur abzuschalten. Genau wie meine beruflichen Termine setze ich mir dafür feste Zeiten und versuche, diese so gut es geht einzuhalten.

Welche Ziele setzt du dir für die Zukunft?

Mit Kuchentratsch wollen wir zeigen, dass sich gesellschaftliche Wirkung und Wirtschaft nicht ausschließen. Für mich persönlich freue ich mich, wenn ich noch lange die Möglichkeit habe Kuchentratsch positiv zu gestalten und Neues auszuprobieren. Dieses Jahr liegt der Fokus im Firmenkundengeschäft und im deutschlandweiten Kuchenversand. Wir sind auf der Suche nach einer größeren Backstube in München, um von hier aus unseren Omakuchen per Post noch weiter auszubauen.

Danke für das Gespräch, Katharina!

 

Weiterführende Links:

Kuchentratsch Onlineshop

K5 Female in Retail


IT-Spezialistin Carolin Desirée Töpfer

Digitalisierung ist ein Konflikt der Weiterbildung

Carolin Desirée Töpfer ist Diplom-Politologin und Spezialistin für die digitale Transformation mittelständischer Unternehmen. Sie beschäftigt sich seit ihrer Teenager-Zeit mit Programmierung und Zukunftstechnologien, später dann auch mit Datenschutz und IT Sicherheit. Auf den B2B Marketing Days in Würzburg lerne ich sie persönlich kennen und merke schnell, wie sehr sie für ihre Sache brennt. Sie glaubt an die Sogwirkung von Digitalisierung und Technologie für junge Talente - Stichwörter New Work und Gamification. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft für Veränderung in Unternehmen. Im Interview schildert sie mir ihre Sicht der Diskrepanz zwischen Technologie und Weiterbildung.

Wie kam es dazu, dass du dich für IT begeisterst?

Das habe ich wohl meinem Umfeld und einem sehr engagierten Informatiklehrer am Gymnasium zu verdanken. Wir hatten dort ein MINT-Zentrum und ich habe etwa mit 14 Jahren mit Web Design und Programmieren angefangen. Man muss sich meine Begeisterung damals als Teenager wirklich so vorstellen: Nach der Schule zuhause die Rolläden runter und viel Zeit vor dem Bildschirm! Abgesehen davon habe ich mich aber auch als Schülersprecherin engagiert und wurde FDP-Mitglied.

Was war denn dein größtes IT Projekt als Schülerin?

Ich habe eine Music-Community aufgebaut, eine Website, über die sich lokale Bands präsentieren, zusammenfinden und mit ihren Fans austauschen konnten. Das waren dann irgendwann 20 Bands, die zusammen viel einfacher Konzerte organisieren konnten. Später gab es auch Festivals und wir hatten ein Street-Team, das auf der Straße Flyer verteilt hat. Das Ding ist sukzessiv gewachsen, obwohl wir damals nur ein Gästebuch integrieren und MySpace nutzen konnte, da es die großen Social Media Plattformen so noch nicht gab. Das war eine spannende Zeit.

 

"Die Einsicht für lebenslanges Lernen wird hierzulande noch viel zu wenig propagiert und gelebt."

 

Und wie ging es dann weiter?

Eigentlich wollte ich Wirtschaftsjournalistin werden. Der beste Rat, den ich dann während eines Praktikums beim Handelsblatt Verlag bekommen habe, war, das zu studieren, was mich wirklich interessiert. Ich entschied mich für Politikwissenschaften mit VWL als Schwerpunkt und betrieb meine Technologiethemen eher nebenher als Hobby.

Wie wurde das Hobby dann doch zum Beruf?

Als ich ins Berufsleben einstieg und die ersten Erfahrungen in Unternehmen sammelte, u.a. in der Finanzbranche, musste ich feststellen, dass meine Technologie zuhause mehr state-of-the-art war als die in den Unternehmen.  Und da meine Kollegen schnell merkten, dass ich mich mit Datenbanken auskannte, sah ich mich plötzlich in der Rolle derjenigen, die die bestehende Technologie analysieren sollte, Datenprojekte übernommen hat und Briefings über Server-Latenzen erstellte.

So kam es dann auch zur deiner Gründungsidee?

Ja. Digitalisierung bedeutet eine grundlegende Veränderung – auf allen Ebenen einer Organisation. Das fällt vielen Mitarbeitern und Führungskräften so ganz ohne technische Kenntnisse besonders schwer. Ich bin in den Unternehmen, in denen ich gearbeitet habe, selbst immer wieder an Grenzen gestoßen, wenn es um digitale Zusammenarbeit und einfache Datenlösungen ging. Das war eine bittere Erfahrung. Ich hatte oft den Eindruck, wenn man als interner Mitarbeiter Probleme lösen will, läuft man gegen Betonwände. Gleichzeitig habe ich mir dann gedacht, dass bei diesen Themen ein externer Helfer die Unternehmen enorm weiterbringen würde. Genau das mache ich heute: Tech Coachings für Führungskräfte, Team Workshops und Vorträge über die verschiedenen Aspekte der Digitalen Transformation.

Inwiefern stehen sich Unternehmen selbst im Weg?

Ich empfinde es als persönlichen Vorteil, auch als Chefin ständig etwas Neues lernen und testen zu dürfen. Die Mentalität in vielen deutschen Unternehmen sieht aber ganz anders aus. Die Hierarchedenke hält an alten Strukturen fest und blockiert. Machtgefüge und Seilschaften spielen dabei eine große Rolle. Es geht oftmals darum, eine Position, in die man sich hochgearbeitet hat, zu halten. Viele Manager dürfen niemals zugeben, dass sie etwas nicht wissen. Auch meine Tech Coachings finden häufig virtuell statt oder so, dass es die Mitarbeiter meiner Klienten nicht mitbekommen.

Ist die Digitalisierung ein Generationenkonflikt?

Das habe ich am Anfang gedacht. Mittlerweile sehe ich es eher als Weiterbildungskonflikt. Ein solides Basiswissen zu digitalen Themen – und auch der Technik dahinter - gibt es in unserer Gesellschaft nicht, weil eine entsprechende Aus- und Weiterbildung nicht allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen gleichermaßen gewährt wird. Die Einsicht für lebenslanges Lernen und die entsprechende Verantwortung des Einzelnen und der Unternehmen, wird hierzulande noch viel zu wenig propagiert und gelebt. Das große Ganze wird oft nicht gesehen und die Zukunft hat derzeit noch einen zu niedrigen Stellenwert. Auch, weil viele aktuelle Führungskräfte die Zukunft nur noch als Rentner erleben werden.

Welche Learnings kannst du Berufseinsteigern geben?

Zum einen müssen sie sich von dem Gedanken verabschieden, viele Jahre in ein und demselben Unternehmen arbeiten zu können und dort einen quasi automatischen Karriereweg einzuschlagen. Zum anderen wäre mein Rat, den Real-Life-Check zu machen: Heuer nicht nur bei hippen Start-Ups oder erfolgreichen Konzernen an, sondern arbeite auch mal bei bodenständigen Mittelständlern. Am besten bei denen mit dem langweiligsten Produkt. Schau dir das Unternehmen von innen an und achte darauf, was nicht funktioniert. Und stell dir dann die Frage, mit welchem disruptiven Geschäftsmodell man den Laden umkrempeln könnte. So erzielst du die besten Learnings, die du in jeden anderen Job mitnehmen kannst.

 

"Händeringend gesuchte Fachkräfte können sich heutzutage ihre Arbeitgeber nach Wohlfühlkriterien aussuchen."

 

Was müssen Unternehmen jungen Talenten heutzutage bieten um attraktive Arbeitgeber zu sein?

Ich bekomme immer wieder Gegenwind, wenn ich davon spreche, dass man von überall aus arbeiten können sollte und dass Arbeit Spaß machen darf. Für viele Führungskräfte geht das nicht zusammen. Die denken, ein Mitarbeiter ist nur produktiv, wenn man ihn sehen kann und Spaß ist etwas für die Freizeit. Absolute Fehlanzeige! Wer seinen Mitarbeitern keinen Spaß und Zugang zu neuen Technologien und digitalen Tools gönnt, bekommt also zunehmend Recruiting-Probleme. Dazu gehören auch Weiterbildungen mit Gamification-Ansatz. Alles was Spaß macht, muss auch im Büro stattfinden dürfen. Dafür muss Arbeit vielerorts anders gedacht und neu organisiert werden.

Wie wird man zum attraktiven Arbeitgeber? Welche Veränderungsprozesse muss man anstoßen?

Ich glaube, man sollte Bewerber und Mitarbeiter wertschätzen und unabhängig von der Art des Jobs, dem Alter und der Erfahrung des Arbeitnehmers mit ihm sprechen, also Feedback annehmen. Anhand der IT-Infrastruktur und dem Nutzerverhalten der Mitarbeiter kann ich zum Beispiel sehr schnell erkennen, ob ein Unternehmen heute schon digital affine Bewerber glücklich machen kann. Viele bleiben da leider hinter ihren eigenen Werbe-Versprechen zurück. Technisch attraktiv zu werden kostet Zeit und Geld. Aber wenn der Großteil der Belegschaft mitzieht, geht es schneller und kostet weniger.

Welche technologischen Veränderungen erwartest du in Zukunft?

Was die Zukunft angeht, finde ich vor allem den Hardware-Bereich interessant. Da gibt es noch viele Lücken im Angebot. Wenn man mit Technologiefans spricht, die z.B. bei Chip-Herstellern oder im Datencenter-Bereich arbeiten, weiß man relativ schnell, was in zehn bis 20 Jahren Alltag sein wird. Ich bin davon überzeugt, dass es in zehn Jahren keine Smartphones mehr geben wird, sondern wir Lösungen wie Google Glass wieder auf der Straße sehen und uns mit kleinen Geräten auseinandersetzen müssen, die sich in Echtzeit mit unserem Körper bzw. unserem Gehirn vernetzen möchten. Das Internet of Things mit all seinen Mini-Computern und Sensoren bietet enorm viele tolle Möglichkeiten.

Welche Ziele setzt du dir für deine berufliche Zukunft?

Im nächsten Jahr steht der Schritt in den US Markt an. Ich habe gelernt, dass man mit Zielen vorsichtig sein muss. Gerade in meinem Fachbereich dauert es am Ende doch immer länger, als ich es mir wünschen würde. Ich hatte übrigens keinen Plan dort zu landen, wo ich heute stehe, bin aber dankbar für die Erfahrungen – die aus meiner Zeit als Arbeitnehmer und besonders die letzten knapp drei Jahre als Gründerin. Dabei wollte ich eigentlich nicht gründen, bevor ich 30 bin. Das ist im nächsten Jahr der Fall. Ich entwickle gerne Ideen, lerne dazu, probiere Dinge aus und schaue, wohin sie mich führen. Meistens vermeide ich anschließend einfach, was für mich nicht funktioniert oder wovon mein Bauchgefühl mir abrät. Bisher bin ich damit ganz gut gefahren.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Weiterführende Links:

Carolins Blog Digitalisierung-jetzt.de zählt im deutschsprachigen Raum zu den renommiertesten, wenn es um die Digitalisierung von Mittelständlern geht.


Digitalisierung Industrieunternehmen

Interview mit Bernd Meidel: Pragmatismus statt Perfektionismus

Nur wenige Verlage haben eine so lange Tradition wie das Würzburger Fachmedienhaus Vogel Business Media. Seit letztem Freitag firmiert das Unternehmen unter dem neuen Namen „Vogel Communications Group GmbH & Co. KG“ und versteht sich künftig als umfassender Dienstleister für B2B-Kommunikation. Publisher Bernd Meidel ist seit Anfang der 90er Jahre an Bord des Verlagshauses und mit den Herausforderungen der Industriebranche bestens vertraut. Im Interview verrät er, wie es um die digitale Transformation in Industrieunternehmen Deutschlands bestellt ist und spricht über Learnings aus dem eigenen Haus.

Welche Trends zeichnen sich aktuell in Industrieunternehmen ab?

Die Unternehmer reden nicht nur mehr über die Digitalisierung, sondern sie packen sie nun wirklich an. Es tauchen zunehmend echte Anwendungen, reale Cases und Erfolgsstorys auf. Das ist schon ein Fortschritt im Vergleich zu den Vorjahren.

Was ist Ihnen dieses Jahr auf der Hannover Messe besonders aufgefallen?

Der Wettbewerb aus Asien nimmt deutlich zu. Deutschland ist führend im Maschinen- und Anlagenbau. Wir müssen hier am Standort Deutschland extrem aufpassen, dass uns in diesen Kompetenzen nicht der Rang abgelaufen wird.

Big Data ist die DNA für die Digitalisierung. Wie reagieren die Unternehmen auf die DSGVO?

Es herrscht eine rechtliche Unsicherheit, die meiner Meinung nach wie Fußfesseln wirkt. Das ist nicht sehr förderlich und kann sich schnell zu einem internationalen Wettbewerbsnachteil entwickeln. Mir scheint wichtig, dass die Unternehmen jetzt einen klaren Kopf bewahren, um den globalen Wettlauf im B2B-Geschäft nicht zu verlieren. Wir wissen ja, wie es im B2C-Bereich vor zehn Jahren ausgegangen ist und welche Firmen dort heute das Sagen haben.

 

"Deutsche Industrieunternehmen dürfen den globalen Wettlauf im B2B-Geschäft nicht verlieren."

 

Digitale Transformation erfordert den Unternehmen eine enorme Agilität ab. Wie gehen insbesondere mittelständische Unternehmen damit um?

Der Mittelstand steht vor dem Problem, dass das Alltagsgeschäft enorme Ressourcen bindet. Man muss Zeit und Raum finden für die Umstellung von Prozessen. Das ist von innen heraus schwierig. Ich bin der Überzeugung, dass digitale Transformation am besten durch externe Beratungen, Sparringspartner und Kooperationen möglich ist. Die Kunst wird es sein, die richtigen Partner hierfür zu finden, die auch bei Mitarbeitern auf Akzeptanz stoßen.

Inwieweit hat die Digitale Transformation Einfluss auf die Unternehmens- und Führungskultur der Industrieunternehmen?

Die Digitalisierung erfordert ganz andere Strukturen, als wir es in hierarchischen Führungskulturen kennen. Die klassische Arbeitszuweisung von oben nach unten funktioniert nicht. Selbstverantwortung ist mehr denn je gefragt, sowohl beim Zeitmanagement als auch bei normalen Arbeitsprozessen, wie bei uns die Arbeit von Redakteuren auf verschiedenen Systemen im Produktionsprozess. Das bedeutet für jeden einzelnen Mitarbeiter gestiegene Anforderungen an die Selbstorganisation. Damit kann nicht jeder von vornherein umgehen. Das ist ein Lernprozess, der Geduld, Hartnäckigkeit und Zeit verlangt.

 

"Der digitale Wandel ist ein ständiger Prozess und von kulturellen Erfolgsfaktoren geprägt."

 

Viele Unternehmen befinden sich schon seit Jahren inmitten eines permanenten Veränderungsprozesses. Was sind die größten Learnings, die bisher im Change Prozess gemacht wurden?

Ja, es stimmt, dass Veränderung der Normalzustand geworden ist. Doch die Auswirkungen der digitalen Transformation werfen völlig neue Handlungsmechanismen auf. Ja, es sind neue Paradigmen! Als Beispiel kann ich von unserer Transformation erzählen. Wir haben uns seit der Jahrtausendwende vom traditionellen Fachverlag in ein multimediales Fachmedienhaus weiterentwickelt. Wir kamen relativ schnell zur Erkenntnis, dass der Wandel ein ständiger Prozess ist und von kulturellen Erfolgsfaktoren geprägt ist. Generell zieht sich die Digitalisierung durch alle Unternehmensbereiche, da muss die ganze Organisation umdenken. Wir haben das mit der Verzahnung von internen, virtuellen Teams gelöst, haben die Belegschaft frühzeitig in den Prozess integriert und immer wieder Schulungen durchgeführt.

Und dann funktioniert es?

Nicht von allein. Man muss den Mut haben, auszuprobieren und Fehler zu machen. Und eine eigene Kultur entwickeln, mit diesen Fehlern umzugehen. Kein Perfektionismus, sondern Pragmatismus ist der Schlüssel. Das erfordert eine gewisse Lockerheit – auch von der Belegschaft - mit externen Unterstützern umzugehen und sie nicht als Bedrohung für die eigene Kompetenz oder gar Existenz im Unternehmen anzusehen.

Sie haben auf der Hannover Messe das Magazin Next Industry herausgebracht, wie kann man sich das neue Format vorstellen?

Wir bilden mit Next Industry das Querschnittsthema Digitalisierung über alle Branchen hinweg ab. Wir setzen dabei auf unsere traditionelle Branchenkompetenz und die Nähe zu den Unternehmen. Wir schaffen für das C-Level-Management ein Kompendium im deutschsprachigen Raum, in dem wir die wichtigsten Themen aufbereiten, Orientierung geben, Motivation und Impulse liefern.

Cover Erstausgabe, April 2018
Next Industry: Das Magazin zur digitalen Transformation in Industrieunternehmen

Wie stehen Sie im aktuellen Wettbewerb und wie positionieren Sie sich?

Die  Marktsituation im Bereich der Fachmedienhäuser ist unverändert: Print ist weiter rückläufig, aber langsamer als befürchtet. Wachstum verzeichnen wir im Digitalen und Eventgeschäft. Unser Ziel ist es, immer wieder ganz dynamisch branchenspezifische Communities mit neuen Themen aufzubauen. Das bedeutet, sie mit Informationen zu versorgen, sie in ihren Veränderungsprozessen zu begleiten und den Industrieunternehmen als Partner auf Augenhöhe zu begegnen. Das verstehen wir heute unter einem Verlagshaus im digitalen Wandel.

 

"In der Zukunft bleibt nichts beim Alten. Wir haben eine Kultur zur Veränderung geschaffen."

 

Sie haben also die Verschiebung vom klassischen Printgeschäft in andere Bereiche geschafft?

Print ist nach wie vor wichtig. Es geht um den richtigen Kommunikationsmix. Wir reden da nicht nur über Banner, Social Media, Chatbots oder Webinare. Auch die persönliche Begegnung spielt beispielsweise eine Rolle, im Vogel Convention Center finden seit 2007 sehr erfolgreiche Networking Veranstaltungen statt. Darüber hinaus haben wir die Vogel-Gründerwerkstatt initiiert, und damit einen Raum für Start-Ups am Standort Würzburg geschaffen. Und es wird auch Zukunft nichts beim Alten bleiben. Wir haben eine Kultur zur Veränderung geschaffen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Meidel!

 

 

Weiterführende Links

Next Industry: Magazin zur digitalen Transformation in Industrieunternehmen

Umfirmierung in Vogel Communications Group


User Experience Design Experte

Interview mit Prof. Danny Franzreb: Die Therapie für Innovation

Um die Frage, wie innovative Technologien Mensch und Marketing verändern, ging es beim 11. Neuromarketing Kongress Ende April in der Münchner BMW Welt. Dort sprach ich mit Prof. Danny Franzreb vom Human-Centered Design Institut der Hochschule Neu-Ulm über den wissenschaftlichen Ansatz der User Experience und das Potenzial, damit echte Innovationen zu schaffen. Er ist Berater für digitale Medien mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Seine Arbeiten als Creative Director für Kunden wie Leica, Mercedes Benz oder die Deutsche Bank wurden vielfach mit nationalen und internationalen Designpreisen ausgezeichnet.

Prof. Franzreb, wir sind im Alltag umgeben von Unmengen digitaler Produkte und Services. Ist die Bedienbarkeit der Technologie der entscheidende Erfolgsfaktor?

Bei der Interaktion mit digitalen Medien geht um die Schnittstelle zwischen Mensch und Technologie. Und ja, die Nutzung und Bedienbarkeit ist absolut wichtig. Aber es ist eine eher defizitorientierte Sichtweise. Es gibt beispielsweise einen Unterschied zwischen tatsächlicher und gefühlter Effizienz. Emotionen spielen mindestens eine genauso große Rolle wie Bedienbarkeit – positive Emotionen führen erst zum Gefühl einer wirklich erfüllenden Produktnutzung.

Das bedeutet die „Faszination Technik“ allein reicht nicht mehr aus für die Kundenzufriedenheit?

Bei der Frage, welche Produkteigenschaften zum Erfolg führen, geht nicht mehr alleine um die technischen Möglichkeiten, sie fungieren teilweise nur noch als Hygienefaktor.

 

"Steve Jobs hat bereits in den 80er-Jahren erkannt, dass der Benefit für den Kunden nicht technologiegetrieben ist."

 

Wie kommt es zu dieser Entwicklung, haben Sie ein konkretes Beispiel?

Die Evolution zur User Experience lässt sich sehr schön am Beispiel Automobil erläutern: Früher nannte man das Cockpit des Automobils „Fahrerarbeitsplatz“. Heute sprechen wir schon vom Fahrerlebnisplatz. Die Entwicklung wird aber noch weiter gehen, Stichwort autonomes Fahren und Elektromobilität. Wir müssen uns die Frage stellen, welche Grundbedürfnisse ändern sich, und welche Produkte und Services entstehen in dem neuen Kontext und wie können wir sie erlebbar machen.

User Experience ist ein abstrakter Begriff, können Sie erläutern, wie man sich das vorstellen kann?

Modellhaft kann man User Experience in drei verschiedenen Dimensionen erklären. Zum einen die pragmatische Qualität. Die zweite ist die hedonische – hier sprechen wir von Dingen wie der Attraktivität und der damit verbundenen Stimulanz, die ein Erlebnis auslöst. Und die dritte Qualität ist die eudänomische, da geht es um langfristige Sinnhaftigkeit bzw. ethisch und sinnstiftende Nachhaltigkeit. Die funktionale Ebene eines Produkts ist dabei eine absolute Grundvoraussetzung. Alle drei Dimensionen sollten dazu führen, dass Erlebnisse so beurteilt und positiv uminterpretiert werden, dass sie persönliche Bedürfnisse befriedigen.

Wie schafft man solche positiven Nutzererlebnisse?

Eine moderne Herangehensweise im Human-Centered Design, bei der die Bedürfnisse des Kunden in den Mittelpunktgestellt werden, ist das Konzept Design Thinking. Es ist ein kreativer Prozess, bei dem man mithilfe von Analysen und Feedback der eigentlichen Nutzer positive Nutzererlebnisse erzeugt und beeinflusst. Die Vorgehensweise ist iterativ, eine Art „Therapie“ für klassische Entwicklungsprozesse mit dem Ziel, Innovationen zu schaffen und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Wenn man sich speziell den Online-Handel anschaut, welche Maßnahmen tragen denn zu einer positiven User Experience bei?

Das Problem ist, dass Menschen grundsätzlich Erlebnisse schlecht antizipieren können – es bleibt immer „nur“ ein Stimmungsbild, ein Bauchgefühl. Man kann aber Erlebbarkeit stimulieren. Dazu muss man seine Kunden und deren Bedürfnisse gut kennen. Um beim Beispiel Online-Shops zu bleiben, kann man sein Sortiment durch klare Argumente wie Testberichte neutraler Institutionen anreichern. Oder über „weiche Argumente“ – wie zum Beispiel Produktauszeichnungen durch Awards oder auch Beurteilungen durch andere Nutzer, die als Stellvertreter für die eigentliche Produktnutzung fungieren.

Nun wird aber nicht jedes Produkt mit tollen Testberichten und Design-Awards ausgezeichnet…

Der Punkt ist: Erlebnisqualitäten werden legitimiert, wenn man darüber spricht. Man kann beispielsweise Produkte durch andere erlebbar machen. Influencer testen Produkte in der realen Umgebung und drehen darüber ein Youtube-Video, das ist nur ein Art der Umsetzung. Oder jetzt mal Multichannel gedacht: ein Produkt wird in einer Verkaufssituation im stationären Handel validiert. Auch ein Belohnungs-Framework könnte funktionieren. All das sind Bausteine, die zu einer positiven User Experience führen können. Die nächste Stufe wird sein, Erlebbarkeiten in virtuellen Realitäten zu schaffen.

Wenn ein bestehender Shop entscheidet, die User Experience in den Fokus zu nehmen, wie müsste er vorgehen? Was sind grundlegende Voraussetzungen?

Ein menschenzentrierter Designprozess würde bedeuten, dass man die Bedürfnisse der Nutzer von Anfang an in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass man Nutzer in alle Phasen des Entwicklungsprozesses integriert. Es genügt hier nicht über Nutzer oder deren Bedürfnisse Hypothesen aufzustellen, man muss wirklich Nutzer im Prozess integrieren, also kontinuierlich Nutzerfeedback einholen. Ein Vorgehensmodell dazu wäre der Human-Centered Design Prozess nach Iso 9241-210. Es muss aber auch nicht immer gleich die ISO-Norm sein, Design Thinking oder Design Sprints stellen gute Alternativen zu dem sehr formellen Prozess der ISO dar.

Design Thinking
User Experience: menschenzentrierter Designprozess

Mit welchen Investitionen ist für ein solches Projekt zu rechnen?

Das ist pauschal schwer zu sagen. Natürlich sind größere Unternehmen mit entsprechenden Anforderungen gut damit beraten formale Rollen in dem Bereich zu etablieren. Dies geschieht auch gerade im digitalen Bereich schon seit einigen Jahren. Es muss aber nicht gleich eine ganze UX-Abteilung sein, man kann auch iterativ vorgehen und Kompetenzen in dem Bereich immer weiter ausbauen. Wir haben selbst gute Erfahrungen damit gemacht Unternehmen zuerst bei dem Aufbau solcher Kompetenzen zu begleiten, um diese dann langfristig bei internen Teams zu etablieren.

Welches Team müsste er dafür zusammenstellen? Welche Qualifikationen müssen die Mitarbeiter haben?

Im Leitfaden Usability des Dakks findet sich eine sehr gute Beschreibung der Rollen und Prozessschritte, die Typisch für solche Projekte sind. Generell kommen verschiedene Kompetenzfelder zusammen. Ursprünglich waren in solchen Prozessen sehr viele Informatiker involviert. Mittlerweile hat man aber erkannt, dass Nutzerforschung in seiner Natur ein sehr humanistisch geprägtes Feld ist. Daher arbeiten auch immer mehr Gestalter und Psychologen in dem Bereich. Einige Hochschulen bieten Studiengänge für User Experience oder Human-Computer Interaction an, das sind interdisziplinäre Studiengänge die alle Kompetenzfelder entsprechend abdecken.

 

"Der größte Fehler ist, pseudo-menschenzentriertes Design zu betreiben."

 

Welche grundsätzlichen Fehler werden bei der Umsetzung gemacht? 

Wenn man zwar versucht, sich Gedanken über die Bedürfnisse der Nutzer zu machen, alles aber größtenteils auf einer hypothetischen Ebene bleibt. Man bastelt dann quasi im Team pseudo Personas, Szenarien und User-Journeys ohne jemals wirklich Nutzerinterviews oder Beobachtung durchgeführt zu haben. Eigentlich sind das dann wieder nur die Meinungen von Teammitgliedern in Nutzerverhalten umformuliert. In der Realität weichen die Einschätzungen vom Produktteam und die Bedürfnisse wirklicher Nutzer dann aber doch sehr stark voneinander ab.

Sehen Sie derzeit bestimmte Trends in der User Experience?

In den letzten zehn Jahren ist die Situation schon sehr viel besser geworden. Dadurch, dass Unternehmen wie Apple oder Google so erfolgreich geworden sind, haben viele andere Unternehmen verstanden wie wertvoll es sein kann sich auf User Experience und menschenzentriertes Design zu fokussieren. Aktuell stehen wir vor neuen Herausforderungen wie die UX von künstlichen Intelligenzen, Voice UX oder AR/VR Experiences.

Gibt es konkrete Forschungsprojekte von User Experience mit AR und VR?

Es gibt erste Ansätze. Wir stellen uns im Moment die Frage, welche Eigenschaften von AR/VR Experiences für deren Beurteilung hinsichtlich der Nutzererfahrung entscheidend sind. Dazu kann man auf viele etablierte Methoden im Rahmen von Nutzungstests zurückgreifen, muss aber auch noch zusätzliche Tools und Testverfahren entwickeln.  Uns wird also so schnell nicht langweilig werden. Solange es neue Produkte und Services gibt, werden wir diese auch für Menschen optimieren, damit deren Nutzung auf funktionaler und emotionaler Ebene überzeugt.

Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Franzreb!

 

Weiterführende Links:

11. Neuromarketing Kongress

Human-Centered Design Institut der Hochschule Neu-Ulm

Leitfaden Usability des DAkkS


Medical stethoscope and electronics

Digitalisierung in der Arztpraxis: Das Rezept für medizinische Versorgungsengpässe

Im Modellprojekt „elektronische Visite“ kommunizieren seit Mai 2016 neun Pflegeheime und elf Arztpraxen mit der gleichnamigen Videosprechstunde. Im Februar 2018 wurde die eintausendste Sprechstunde durchgeführt und in einer begleitenden Evaluation die Effektivität des Projekts bescheinigt. Schon Mitte letzten Jahres, als elVi® vom Deutschen Ärzteblatt mit dem Praxis-Preis des ausgezeichnet und vom TÜV zertifiziert wurde, durfte ich  Business Developer Jan Beckmann über die zukünftigen Herausforderungen der medizinischen Versorgung in Deutschland befragen und wie ein Digitalprojekt hilft, diese zu meistern. 

Herr Beckmann, was ist die elektronische Visite und warum brauchen wir sie?

Der demographische Wandel wird die medizinische Versorgung der Bevölkerung vor eine große Herausforderung stellen. Denn nicht nur das Durchschnittsalter der Menschen und damit der Bedarf an Medizin steigen, gleichzeitig entsteht auch ein Mangel an Ärzten und Pflegekräften, der schon jetzt zu spüren ist – besonders im ländlichen Raum. Mit Hilfe der elektronischen Visite, einem telemedizinischen Videokommunikationssystem, an das auch Messgeräte angeschlossen werden können, können Ärzte ihre Patienten medizinisch betreuen, ohne dass diese in die Praxis kommen müssen.

Wo liegt der Vorteil für den Patienten und wie profitieren Ärzte von der digitalen Sprechstunde? 

Patienten brauchen nicht mehr in jedem Fall die unter Umständen lange Fahrt zum Arzt auf sich nehmen. Chronisch kranke Menschen z.B., bei denen die Diagnose klar ist und deren Krankheitsverlauf nur überwacht werden soll, können sehr gut via Video-Visite behandelt werden. Dabei kann elVi, z.B. über ein mobiles EKG, auch Vitalparameter messen, die der Arzt in Echtzeit sehen und auswerten kann. Der Arzt wiederum profitiert, weil er über die Videosprechstunde die Praxis entlastet: Es gibt keine Vor- und Nachbereitungszeiten und er kann – wenn er das will – Patienten auch von zuhause oder unterwegs betreuen. Zudem entfallen Anreisekosten und –zeiten. Das ist nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass Hausärzte im Notdienst teilweise für Gebiete von 80 x 80km verantwortlich sind.  Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Arzt den Patienten immer kennt. Es geht also nicht um anonyme Sprechstunden.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, bei dem der Nutzen der digitalen Sprechstunde deutlich wird?

Bei dem Bewohner eines Pflegeheims wurde bei einem früheren Arztbesuch Herzinsuffizienz festgestellt. Zur Beobachtung des Gesundheitszustandes setzt der zuständige Arzt elVi ein. Er vereinbart mit der Pflegekraft einen Kontrolltermin und wenn gewünscht, kann auch gleich ein Angehöriger an dem Videotermin teilnehmen. Über das mobile EKG, das sehr leicht zu bedienen ist, kann der Patient oder die Pflegekraft die Herztöne messen, die der Arzt sofort über ElVi einsehen kann.  Im Gespräch mit den Teilnehmern der Videokonferenz erhält der Arzt ein umfassendes Bild des Gesundheitszustandes.

Das E-Health-Gesetz ermöglicht ab dem 01. Juli 2017 die reguläre Abrechnung von Online-Videosprechstunden über die Krankenkassen. Was glauben Sie, wie wird sich das auf den Bereich der Telemedizin auswirken?

Die Einbindung in die Regelversorgung ist eine große Chance. Immer mehr Ärzte werden dann von Online-Sprechstunden Gebrauch machen. Wir erwarten für das Jahr 2017 ein starkes Wachstum in der Verbreitung von telemedizinischen Dienstleistungen.

Das Honorar ist aber gedeckelt. Glauben Sie, dass sich das trotzdem durchsetzen wird?

Unser System ElVi wird in Deutschland bereits von einigen Hundert Ärzten getestet, zum Teil über geförderte Projekte, zum Teil aber auch, weil die Ärzte einfach den hohen Nutzen für sich  erkannt haben. Vor allem bei den jungen, online-affinen Ärzten ist das Interesse sehr groß und auch die Rückmeldungen sind sehr positiv. Wir glauben fest daran, dass die Video-Sprechstunde sich durchsetzten wird, weil sie wirklich Sinn macht – auch wenn die Krankenkassen den abrechnungsfähigen Honorarsatz recht niedrig ansetzen.

In anderen europäischen Ländern ist man in der Telemedizin schon sehr viel weiter. Wieso ist man in Deutschland so restriktiv?

In der Schweiz z.B. wird Telemedizin heute schon oft genutzt. Das lässt sich auf geographisch erklären. In Deutschland ist der Datenschutz immer eine Herausforderung für medizinische IT-Dienstleistungen. Die Anforderungen sind wirklich hoch. Aber alle Systeme, die heute am Markt sind, genügen natürlich diesen Anforderungen.

Können Sie genauer erklären, warum wir uns bei der Nutzung von elVi keine Sorgen um unsere Datensicherheit machen brauchen?

elVi ist eine sogenannte Peer-to-Peer-Lösung. Der Computer des Arztes kommuniziert direkt mit dem des Patienten und es findet keinerlei Zwischenspeicherung auf irgendeinem externen Server statt. Das ist bei Skype z.B. ganz anders und unterscheidet telemedizinische Videokonferenzen grundlegend von Skype – auch wenn die Anwendung selbst durchaus Ähnlichkeit mit dem bekannten skypen hat. Selbstverständlich ist die Direktverbindung auch verschlüsselt und es findet eine Zugangskontrolle über ein Kennwort statt.

Der Markt für Gesundheitswesen boomt. Täglich schießen neue Start-Ups aus dem Boden. Wie schätzen Sie den Markt ein?

In Deutschland gibt es 135.000 niedergelassene Ärzte. Dieses Klientel ist sehr treues und nicht besonders preissensitiv. Wenn man ihnen eine Lösung an die Hand gibt, die ihnen wirklich die Arbeit erleichtert und einen guten Service bietet, hat man gute Chancen, den Arzt als überaus treuen Kunden zu gewinnen. Natürlich wissen das auch andere Anbieter. Sowohl die Nachfrage nach als auch das Angebot von telemedizinischen Dienstleistungen wird steigen.

Was ist ihr USP gegenüber den anderen Wettbewerbern wie zum Beispiel TeleClinic oder Patientus?

Zum einen ist das unsere Technologie. elVi bietet z.B. Konferenzschaltungen mit fünf Teilnehmern oder mehr. Außerdem entwickeln wir Zusatzgeräte wie z.B. das mobile EKG, mit denen der Einsatz von elVi zusehends erweitert werden wird. Ein weiterer großer Pluspunkt ist unsere hervorragende Vernetzung in der Ärzteschaft und in verschiedenen politischen Gremien. Das ist auch der Grund, warum elVi im Gegensatz zu Konkurrenzprodukten schon heute von hunderten von Ärzten genutzt wird. Die daraus resultierende Erfahrung verschafft uns wiederum einen großen Vorsprung gegenüber anderen Anbietern.

Wie viel kostet elVi?

elVi kostet 59,- Euro pro Monat und wird als Lizenzmodell vertrieben.

Das Ärztebewertungsportal Jameda wurde 2015 vom Burda-Verlag übernommen und hat jetzt hat sich 2017 in die Telemedizin eingekauft und das Berliner Start-up Patientus erworben. Wie wirkt sich das auf Ihre Wettbewerbssituation aus?

Ehrlichgesagt sind wir sehr skeptisch ob die Kombination mit dem Bewertungsportal für Patientus wirklich vorteilhaft ist. Die Vorbehalte aus der Ärzteschaft jedenfalls sind diesbezüglich sehr groß.

Ihre Software hat beim diesjährigen Praxis-Preis des Deutschen Ärzteblatts den 1. Preis gewonnen. Glückwunsch! Wie wichtig sind solche Preise für elVi?

Sehr wichtig – und zum Glück haben wir auch bereits einige gewonnen. Erst Anfang des Jahres z.B. den „Erfolgs-Rezept Praxis-Preis“ der Verlagsgruppe Springer Medizin. Besonders gefreut hat uns hier, dass der Sieger über ein Online-Voting unter Ärzten sowie durch eine Fachjury  ermittelt wurde.  Als Start-up ist diese Aufmerksamkeit natürlich immens wichtig und gibt uns Motivation und Bestätigung, auf dem richtigen Kurs zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch und in die Einblicke in die Digitalisierung im Gesundheitswesen!