Anne Kjaer Riechert ist Gründerin der ReDI-School, eine Programmierschule für Flüchtlinge und Organisation für digitale Integration. Vom Handelsblatt wurde sie letzte Woche zur „Mutmacherin des Jahres 2018“ gekürt. Auf dem Charity Brunch „What’s your Jouney?“ Anfang Dezember in München stellt sie ihr neuestes Projekt vor: ReDI Women – ein spezielles Schulungsprogramm für geflüchtete Frauen, das hilft, digitale Fähigkeiten zu entwickeln, Netzwerke aufzubauen und Selbstständigkeit zu fördern. Anne liegt dieses Projekt besonders am Herzen, will es weiter ausbauen und sucht dafür finanzielle Unterstützer. Um meinem Netzwerk Annes Spirit und Antrieb näherzubringen, darf ich sie auf ihrer ganz persönlichen und wie ich finde sehr bewegenden Reise begleiten. Ein Porträt einer sehr inspirierenden Frau.

Annes Geschichte beginnt schon vor ihrer Geburt. Nämlich mit ihrer Familiengeschichte. Ihre Großeltern haben in Deutschland den ersten Weltkrieg erlebt und sich geschworen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Sie werden Pazifisten und Verfechter der Demokratie. Sie produzieren in ihrem Familienbetrieb, einer Druckerei in Heide, pazifistische und sozialdemokratische Bücher und Schriften. Das passt den aufstrebenden Nationalsozialisten nicht, die Großeltern werden mehrmals verhaftet, die Druckerei gerät immer mehr unter Beschuss. Bei der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 treffen die Großeltern eine schwere Entscheidung, nämlich zu flüchten.

80er Jahre. Anne wächst in Dänemark auf. Ihre Eltern erzählen ihr immer wieder die Geschichte und sie verinnerlicht ein Mantra: Man muss um Werte kämpfen und dabei auch manchmal schwere Entscheidungen treffen. Als Einzelkind wächst sie in einem Umfeld auf, das sie viel an Diskussionen mit Erwachsenen teilhaben und sie immer wieder die Warum-Frage stellen lässt. Sie ist neugierig und idealistisch.

Scheitern am Business Case NGO

Sie absolviert ein Innovationsstudium an der privaten Business School Kaospilot in Dänemark. Sie wird dort inspiriert von der Methodik, Produkte und Dienstleistungen nach realen menschlichen Bedürfnissen zu gestalten und nicht nach Vorgaben von Gewinnmaximierung oder von technischer Entwicklung. Nach ihrem Studium startet sie ihr eigenes Projekt „Kids have a Dream“, das Teenagern auf der ganzen Welt dabei hilft, ihre Träume für die Zukunft zu definieren und zu verfolgen. Mehr als 4000 Kinder in über 30 Ländern haben in den vergangenen zwölf Jahren teilgenommen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, das Projekt auf ein fundiertes Geschäftsmodell zu stellen. Die Lektion, die sie daraus lernt und sie bis heute begleitet: „NGOs müssen auch Geld verdienen, um die Belegschaft zu bezahlen. Wenn nicht, ist das Projekt weder nachhaltig noch skalierbar.“

 

„ Ich habe eigentlich nie einen Job durch eine Bewerbung bekommen.
Ich wurde immer durch mein Netzwerk empfohlen oder geleitet.“

 

Als externe Beraterin arbeitet sie drei Jahre lang in Kopenhagen, u.a. für Samsung Electronics. Dort ist sie für die Entwicklung und Umsetzung einer Strategie für nachhaltige Unternehmensführung in Skandinavien verantwortlich. Sie lernt, wie man gewinnorientierte und gemeinnützige Organisationen zusammenbringt. Wie man Projekte entwickelt, die für beide Seiten von Vorteil sind. Die Arbeit im Konzern macht ihr Spaß und sie ist erfolgreich, für ihren Geschmack aber noch nicht innovativ und wirkungsvoll genug. Sie entscheidet sich für ein weiteres Studium, und bekommt bei Rotary ein Stipendiat für ein zweijähriges Master-Studium in Friedens- und Konfliktforschung in Japan.

Digitale Integration

Danach zieht sie es nach Berlin. 2013 gründet sie in Zusammenarbeit mit der Stanford University das Berlin Peace Innovation Lab. Das Netzwerk wächst innerhalb von drei Jahren zu einer Gemeinschaft von 1700 Menschen. „Wir haben einen monatlichen Co-Creation-Workshop ins Leben gerufen, um die lokalen sozialen Herausforderungen in Berlin zu diskutieren und Ideen zu erarbeiten, wie diese gelöst werden können.“ Im April 2016 sitzt sie mit 40 Teilnehmern im Berliner Rathaus zusammen, um Ideen für die Unterstützung der Asylbewerber, die zu dieser Zeit nach Deutschland kommen, zu erarbeiten. „Wir hatten viele Stakeholder am Tisch – aber die wichtigsten fehlten: Die Flüchtlinge selbst.“ Sie fängt an, die Flüchtlingslager zu besuchen, um die wirklichen Bedürfnisse richtig zu verstehen – und mit den Menschen selbst zusammenzuarbeiten, um Lösungen zu finden.

Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt.
Begegnung zweier Tech-Geeks: Mark Zuckerberg und Rami Rihavi aus Alappo in der ReDI School.

Anne vergisst niemals, wie sie dort Mohammed begegnet, einem Programmierer aus dem Irak. Er hat Spaß am Programmieren, würde auch gerne arbeiten. Er besitzt aber weder einen Labtop noch das Netzwerk, um einen Job zu finden. Da kommt ihr der Gedanke: Warum nicht Technologien nutzen, um soziale Probleme zu lösen? Sie schreibt auf Facebook einen Post und fragt ihre Community, wer sie dabei unterstützen könne, Menschen wie Mohammed zu helfen. Mit der positiven Resonanz hätte sie nicht gerechnet. 30 Personen wollen gleich aktiv mitarbeiten. Bieten Hilfe in Form von Sachspenden wie Labtops an, erklären sich bereit, ehrenamtlich Kurse zu geben, stellen Räumlichkeiten zur Verfügung. Oder wollen einfach einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen.

Fit für den deutschen Arbeitsmarkt

So entsteht die Idee der „Refugee on Rails“, die sich später zur ReDI School entwickelt. „Ich kann selbst nicht programmieren – daher habe ich keine Tech-Schule gegründet, um meine eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Stattdessen ist die ReDI School eine sehr pragmatische Lösung, um den Newcomern in Deutschland, der deutschen Wirtschaft und der deutschen Gesellschaft zu helfen.“ Es kommen viele Geflüchtete nach Deutschland, die Programmier-Vorkenntnisse haben oder zumindest technikaffin sind. Anne will diesen Menschen eine Perspektive geben und die schlummernden Talente fit für den deutschen Arbeitsmarkt machen. Bedarf ist allemal da: Es gibt in Deutschland laut Bitkom über 55.000 unbesetzte IT-Jobs. Eine feste Arbeitsstelle zu haben, ist ihrer Meinung nach Grundvoraussetzung für Integration.

 

„Wir müssen eine Plattform schaffen, auf der sich die Menschen
durch ein gemeinsames Interesse leicht verbinden können: Technologie.“

 

Zunächst startet Refugee on Rails mit einer „Wir-schaffen-das-Euphorie“, aber schnell kommen Anne und ihre ehrenamtlichen Helfer an ihr Limit. Auch aus eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie es nur schaffen kann, wenn sie eine gemeinnützige Organisation als Unternehmung aufbaut. In dieser Findungsphase spielen ihre Partner Weston Hankins und Ferdi van Heerden eine große Rolle. „Wir haben fünf Monate lang Konzepttests durchgeführt, bevor wir dann tatsächlich die Organisation gegründet haben. Wir hatten auch enormes Glück, von Anfang unseren ersten Unternehmenspartner Klöckner & Co an Bord gehabt zu haben, die uns monetär unterstützt haben. Ansonsten hätten wir es nicht geschafft.“

Dann kommt Mark Zuckerberg zu Besuch in die ReDI-School. Ein persönlicher Meilenstein für Anne. Denn Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt, das er plant, um mit seiner Mutter in Aleppo sprechen und dabei seine Heimat sehen zu können. Umgekehrt soll seine Mutter sehen, wie er lebt. Ein Milliardär trifft einen Flüchtling – so scheint es von außen. Aber innerhalb weniger Minuten entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden und es sind zwei Tech-Geeks, die sich unterhalten. So schnell verschwinden vermeintliche Grenzen. Für Anne ist dies einer dieser Aha-Momente, in denen sie merkt, dass sie das Richtige tut.

Umgang mit Bürokratie und Widerstand

Angela Merkel zu Besuch in der ReDI School
Politischer Besuch in der ReDI School: Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mit den Student*innen

Das Richtige zu tun, ist nicht immer einfach. Anne muss einige Hürden nehmen und braucht langen Atem. Für die deutsche Bürokratie hat sie fast nur ein Kopfschütteln übrig. Etwa, als sie vier geflüchtete Frauen in der ReDI School einstellen will und an der Antragsstellung beinah scheitert. Oder die Anerkennung als Weiterbildungsinstitution, mit der die ReDI School offiziell Diplome ausstellen kann: ein monatelanger Aufwand für das Team, verbunden mit hohen Kosten. Ohne Spendengelder nicht möglich. Mit welcher Leichtigkeit sie davon erzählt, lässt erahnen, dass sie niemals die Geduld verliert. Beharrlich und mit viel Durchsetzungsvermögen setzt sie ihre Arbeit fort. „Ich fange einfach mal an. Es ist ein iterativer Prozess, manche Dinge kappen auf Anhieb, manche nicht. Und daraus lerne ich.“ Sie spricht das Mysterium des Hummelflugs an. „Manchmal fühlt sich das so an. Da die Hummel ja nicht weiß, dass sie nicht fliegen kann, tut sie es einfach trotzdem“, fügt sie lachend hinzu. Es ist harte Arbeit, aber das empfindet sie nicht so. Denn sie sieht etwas wachsen, was sinnstiftend für die Gesellschaft ist.

Politischen Widerstand von rechts bekommt sie glücklicherweise wenig zu spüren. Offenheit und Dialog schützt sie davor, davon ist sie überzeugt. „Unsere Türen im Berliner und Münchner Büro stehen für alle offen. Wenn jemand Fragen dazu hat, was wir tun, kann er gerne zu mir kommen und mit mir bei einem Kaffee über die Differenzen sprechen.“ Sie versteht, dass viele Menschen Ängste haben und deshalb sehr kritisch gegenüber Integration sind. Sie gibt einen Rat: „Hört auf, über Flüchtlinge zu reden, fangt an mit Flüchtlingen zu reden“. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man die Leute, die man in die Schublade „Flüchtlinge“ gesteckt hat, persönlich kennt – und erkennt, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten gibt als das, was sie voneinander unterscheidet.

Diversität – auch bei der ReDI School

Nach zwei Jahren Coding-Kurse für Newcomer, stellt sie fest, dass nur 10 Prozent weibliche Teilnehmerinnen in den Kursen präsent sind. Um das zu ändern, setzt sie und ihr Team Co-Creation Workshops mit Frauen verschiedener Hintergründe auf, um ein Programm zu gestalten, das den Bedürfnissen der Frauen entspricht. „Seit Anfang September läuft unser ‚Digital Women Programme‘ in München. Anfangs haben wir mit 25 Teilnehmerinnen geplant, aber die Nachfrage ist so groß, dass wir mehr Frauen unsere Schulungen ermöglichen wollen.“ Dazu läuft eine Spendenkampagne auf der Plattform Betterplace.org

 

„Was wir für die geflüchteten Menschen tun, tun wir in Würde und Demut.“

 

Das ist nur eines der Projekte, die für 2019 auf ihrer todo-Liste stehen. Schulungsprogramme für Frauen will sie kontinuierlich ausbauen und das ReDI-Kids-Programm in Berlin weiterentwickeln: „Unsere ehemaligen Schüler sollen zu Lehrern ausgebildet werden, um sowohl deutsche als auch Migrantenkinder IT zu unterrichten. Denn digitale Bildung ist der Schlüssel – alle Gesellschaftsschichten brauchen Zugang dazu.“ Die Gründung einer ReDI School am Standort Hamburg steht ebenfalls auf ihrem Plan.

Aber auch persönlich hat Anne sich für das kommende Jahr Ziele gesetzt. Sie will eine witzige Facebook-Selbsthilfegruppe „Karma Kaolation“ ins Leben rufen und alle Menschen ansprechen, die wie sie in Zukunft weniger konsumieren wollen. Zum Beispiel keine neuen Klamotten mehr kaufen. „Ich denke, hinsichtlich unseres Konsums braucht die Welt eine radikale Veränderung. Ich werde ein kleines bißchen dazu beitragen und versuchen, auch mein Verhalten zu ändern, um umweltfreundlicher zu sein.“ Sie möchte aber auch Zeit für sich selbst finden, um in der Natur Kraft zu schöpfen. Sie ist gerade dabei, mit ihrem Partner eine Farm im Wendland in Niedersachsen zu kaufen. „Ich arbeite viel, deshalb ist es schön, am Wochenende einen Ort zu finden, an dem Ruhe und Frieden herrscht. Und genug Zeit, um mit Freunden und Familie am Lagerfeuer zu sitzen und über die Dinge zu sprechen, die uns wichtig sind.“ Dinge, die die Welt ein bisschen besser machen.

 

Weiterführende Links

Spendenaufruf für das ReDI Women Programme

ReDI School

Facebook-Selbsthilfegruppe Karma Kaolation